Wer zu spät kommt …

Nachdem sich der Mannschaftsführer offenbar nicht bemüßigt fühlte, einen Bericht zum letzten Mannschaftskampf zu schreiben, erbarmte sich Andreas, den 5:3-Sieg gegen SKJE II, mit hoher Wahrscheinlichkeit gleichbedeutend mit dem Klassenerhalt, entsprechend zu würdigen.

Während der Erfolg also eine durchaus beruhigende Wirkung hatte, konnte ich das von meinem Spiel ganz und gar nicht sagen. Noch spät in derselben Nacht schrieb ich an die besagten Teamkollegen:

Ein durch und durch patziger Mannschaftskampf, der m. E. einer Stadtligabegegnung unwürdig war. Was da insbesondere an den Brettern 3 und 6 abging, spottet jeder Beschreibung. Wir hätten auch würfeln können, die Qualität der Partien wäre tendenziell eher gestiegen. Was für ein gebrauchter Tag. Immerhin endete das lustige "Nimm Du ihn, ich hab ihn sicher" mit zwei Mannschaftspunkten für uns. Tröstet mich jetzt nur marginal, so dermaßen angewidert bin ich von dem, was ich da zusammengewürgt habe. Ich gehe jetzt brechen. P.S.: Vermutlich sollte ich als therapeutische Maßnahme einen Artikel zu dieser Partie schreiben und das ganze Elend dokumentieren. Aber welcher Gegner würde ich mich dann noch ernst nehmen? Ich jedenfalls nicht.

Zur allgemeinen Belustigung möchte ich nun also die im Postskriptum angekündigte Selbsttherapierung praktizieren, auf dass der geneigte Leser vielleicht auch ein bisschen unterhalten wird. Ich hatte Weiß an Brett 6, und nach einer von beiden Seiten sicherlich nicht optimal gestalteten Eröffnung kam Schwarz durch eine Reihe von passiven Zügen nach dem Übergang ins Mittelspiel in Schwierigkeiten.

[chessboard] brnr-bk- —–ppp pp-p—- —-p–q P-P-P-N- -P—PP- -B-RQ-BP —R–K- [/chessboard]

Dies ist die Stellung nach meinem 26. Zug, Se3-g4, der zwar vom Mannschafsführer kritisiert wurde, aber auch nicht nennenswert schlechter als mögliche Alternativen war. Die durchaus plumpe Drohung ist 27. Sxe5, aber diese ist nicht so leicht abzuwehren!

Zunächst eine kurze Bestandsaufnahme: Mit Ausnahme der etwas verloren auf h5 herumstehenden Dame sind alle schwarzen Figuren auf der achten Reihe plaziert. Die Türme sind nicht verbunden, beide Läufer haben keinerlei Perspektiven, und der Springer steht nach einer wahren Odyssey von f6 über d7, e5, c6 und e7 (fünf der Züge 19 bis 25 erfolgten mit dieser Figur!) auf c8 auch nicht eben gut. Der Bauer d6 ist sehr schwach, und keiner der Durchbrüche b5 und d5 ist auf absehbare Zeit möglich. Es ist ein Spiel auf ein Tor. Die Schachengine Stockfish bewertet diese Stellung, obwohl im materiellen Gleichgewicht, schon mit einem weißen Vorteil oberhalb von +1,5 Bauerneinheiten!

Wie also der Drohung 27. Sxe5 begegnen? Schwarz wählte 26. … f6? (besser, aber immer noch verloren wäre 26. … Te8). Die Bewertung schnellt nun hoch auf +3! Der ebenso simple wie schnelle Weg zum Gewinn ergäbe sich nach 27. f4!. Das Problem ist die ungedeckte Stellung der Dame auf h5 und die aufgrund des unkoordinierten Herumlungerns der schwarzen Figuren nicht abzuwehrende Drohung, auf e5 zu schlagen, dieses Mal mit dem f-Bauern. 27. … exf4 verbietet sich wg. 28. Sxf6+ gefolgt von 29. Dxh5 und Handtuch aus der schwarzen Ecke. Selbst ein Zurückziehen der Dame nach e8 hilft nicht, da der d-Bauer weiterhin gefesselt und nach 28. fxe5 die schwarze Stellung eine einzige Ruine ist.

Stattdessen zog ich überhastet 27. b4?!, mit der Absicht, die eigene Stellung weiter zu verstärken und nach 28. b5 Schwarz komplett einzuschnüren, nur um (wieder einmal, wie schon am Wochenende zuvor in Kassel!) kurz nach dem Loslassen des Bauern die einfache Antwort 27. … d5 (genauer: Gespenster) zu sehen.

Nun stellte sich ein Effekt ein, den vermutlich viele Schachspieler schon einmal erfahren haben. Nach einem Fehler lässt man sich vom Ärger und Emotionen zu einem weiteren Fehler verleiten, sieht die Felle vermeintlich davonschwimmen, anstatt die neue Situation ruhig und kühl zu analysieren. Denn auch nach diesem schwarzen Zug ist Weiß weiterhin im Vorteil, ganz einfach weil die schwarzen Figuren so unsagbar schlecht stehen!

Nach wie vor ist nämlich 28. f4! der Weg, den weißen Vorteil festzuhalten, und nach wie vor muss sich danach die Dame zunächst der Holzhammerdrohung 29. Sxf6+ nebst 30. Dxh5 durch 28. … Dg6 oder 28. … De8 erwehren, weshalb die "Drohung" 28. … Lxb4 schlicht und ergreifend keine ist! Stattdessen zog ich 28. cxd5?, und noch immer ist Weiß klar im Vorteil!

Schwarz antwortete nun erwartungsgemäß mit 28. … Lxb4. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass der Weg zum weißen Gewinn nach wie vor in 29. f4! (zum dritten Mal nacheinander!) zu suchen ist, erneut mit der bekannten Drohung, weshalb der Turm auf d2 Tabu ist.

Aber nein, das wäre zu einfach, deshalb verkomplizierte ich die Angelegenheit mit 29. Tc2?. Nun ist die Sache schon nicht mehr ganz so klar, aber Weiß ist weiterhin eindeutig derjenige, der hier den Ton angibt und auf Sieg spielt. Eine mögliche Fortsetzung wäre 29. … Lc5+ 30. Kh1 Dg6 31. a5 Sd6 32. Tdc1 Lb7 33. axb6 Lxb6.

Schwarz zog stattdessen den auf den ersten Blick naheliegenden und "aktiven" Zug 29. … a5? Die Frage nach der richtigen weißen Antwort erübrigt sich?! Ja, zum vierten Mal in Folge gewinnt der Zug des f-Bauern glatt!

Ich nahm die Einladung aber großzügig wiederum nicht an und versuchte stattdessen, mit 30. Se3? etwas zu erreichen, vermutlich mit der Idee, den Springer mal nach f5 bringen und nach dem Eindringen des Turms auf c7 Drohungen gegen den schwarzen König aufstellen zu können. Weiß hat noch immer leichten Vorteil, wird nun aber deutlich mehr Mühe haben. Schwarz antwortete naheliegenderweise mit der Blockade des d-Bauern und gleichzeitigem Decken von f5 durch 30. Sd6. Denkbar wäre nun 31. Ta1, um den schwachen a-Bauern zu unterstützen, und danach 32. Sc4 mit Abtausch des Blockadespringers. Nach wie vor kann eigentlich nur Weiß auf Sieg spielen, trotz vier schlechter Züge nacheinander!

Ich hingegen entschied mich für 31. Tdc1?!, wohl immer noch der wirren Idee nachhängend, über die c-Linie einen Angriff starten zu können. Nach der möglichen Antwort 31. … Lb7 oder dem von Schwarz gespielten 31. … De8 ist die weiße Stellung zwar nun letztendlich ihrer Vorteile beraubt, aber ein Remis sollte drin sein.

Stattdessen geschah Unfassbares: Ich sichtete weitere Horden von Gespenstern. "Mist, wie soll ich bloß den a-Bauern decken? Der Turm auf c2 ist vom Läufer blockiert!" Ja, meine Damen und Herren, sehen sie ruhig nach, meine DWZ liegt oberhalb von 1800, nicht unterhalb von 1300. Erstaunlich, oder?!

Auf welchen Zug verfiel ich also in meiner aus Frust und Depressionen über die verpatzte Stellung angerührten Selbstbemitleidungssoße? Richtig, 32. f4? haute ich aufs Brett! Jetzt, wo dieser Zug zu klarem Vorteil für Schwarz führt, jetzt, nachdem er vier Züge nacheinander den Gewinn garantiert hätte, JETZT verfalle ich auf diesen aberwitzigen Einfall! "'ne reine Weltidee!"

Und mit dieser Erläuterung der Überschrift zu meinem Therapieartikel "schließt sich der Kreis" …

Ein Kommentar

  1. Ein toller Artikel! Bitte

    Ein toller Artikel! Bitte mehr davon – und gerne auch bei einem postiven Partieausgang.  

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