Turnierbericht: Hamburger Jugendeinzelmeisterschaften 2014

Seit elf Jahren nehme ich jetzt an den Hamburger Jugendeinzelmeisterschafen teil. Das ist mehr als die Hälfte meines Lebens. Dieses Jahr war leider das letzte, in dem ich noch mitspielen durfte – ab 2015 bin ich kein Jugendlicher mehr.

Wie immer wurde die HJEM als neuntägige Jugendreise organisiert. Wie seit neun Jahren fuhren wir mit zwei Reisebussen voller Teilnehmer nach Schönhagen an die Ostsee. Wie seit langer Zeit nicht mehr hatten wir dieses Mal Glück mit dem Wetter. Die Märzferien sind in dieser Hinsicht ja vielfältig; mal ist es verregnet, mal schneit es sogar noch. Dieses Jahr hatten wir fast durchgehend Sonnenschein und Spitzentemperaturen, bei denen sich ein Teilnehmer sogar ermutigt fühlte, in der Ostsee baden zu gehen. Gut, er ist daraufhin krank geworden, aber für Anfang März ist das schon ziemlich gut.

Mit dem gewohnten Freizeitprogramm und Speiseplan war für das Drumherum bereits gesorgt – nur gutes Schach musste man noch spielen. In der A-Gruppe, die dieses Jahr nur aus zehn Teilnehmern bestand, waren mit vielen Punkten Abstand die Ratingfavoriten Julian Grötzbach und Julian Kramer, beide HSK-Jugendliche. Da ich mich ohnehin nicht mehr für eine Deutsche Meisterschaft qualifizieren konnte, war es also mein persönliches Ziel, in meinen Partien gegen die beiden möglichst viele Punkte mitzunehmen. Gut, das ist das Ziel bei jeder Partie, aber diese waren mir besonders wichtig.

Die Paarungen und Farbverteilungen des Rundenturniers waren bereits zwei Wochen vorher bekannt, sodass ich zuhause schon ein wenig Vorbereitung betreiben konnte. Kurios: Gegen die obere Tabellenhälfte hatte ich komplett Weiß, und gegen die untere komplett Schwarz.

Die Auftaktpartie ließ sich zunächst ganz gut an. Ich hatte Schwarz gegen Luis Engel, eines der neuesten Jugendtalente des HSK. Luis wird dieses Jahr erst 12, hat aber bereits die 1900er-Marke durchbrochen und ist dabei wie die meisten sich schnell verbessernden Jugendtalente wohl noch zu niedrig bewertet. In der Eröffnung bekam ich meine vorbereitete Variante aufs Brett, und Luis setzte etwas ungenau fort, sodass ich eine etwas angenehmere Endspielstellung mit Läuferpaar erreichen konnte. Weiß hatte noch etwas Druck, aber das könnte ich sicherlich aussitzen. Leider kam es aber nicht so: Ein Angriffsmotiv, welches ich als ungefährlich eingestuft hatte, war in Wahrheit absolut tödlich. Anschließend war nur noch Luis Technik gefragt, und die war trotz des zarten Alters bereits ausreichend vorhanden.

In Runde zwei durfte ich dann mit Weiß passenderweise gegen die Nummer zwei der Startrangliste ran. Gegen Julian Kramer (Elo 2126) hatte ich bereits letztes Jahr in der letzten Runde mit Weiß etwas glücklich gewonnen, nachdem Julian meiner aufwändigen Eröffnungsvorbereitung gegen seinen Halbslawen durch eine ungenaue Zugreihenfolge entgangen war. Dieses Jahr war meine Vorbereitung dieselbe, aber Julian machte bereits mit seinem ersten Zug, …f5, klar, dass das wieder umsonst war. Mit der entstandenen Struktur war wohl keiner von uns beiden allzu vertraut. Die Stellung geriet trotzdem nie wirklich aus dem Gleichgewicht, bis schließlich nahezu alle Bauern blockiert waren und das Remis klar war.

Am nächsten Tag dann stand die Doppelrunde an. Das heißt: Eine Partie am Vormittag, und dann wieder ein am Nachmittag.

Die Vormittagspartie war ein totaler Flop, denn ich stand schon vor dem Ende der Eröffnung hoffnungslos auf Verlust. Meine Vorbereitung auf David Krüger war nicht so umfassend, wie sie hätte sein müssen. Bereits im neunten Zug wusste ich nicht mehr weiter – David hatte den natürlichen Zug Sc3 gespielt, und ich hatte nur 0-0 betrachtet. Nach kurzem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass das nur Zugumstellung wäre, und spielte analog zu meiner Vorbereitung. Irrtum! Der Unterschied war gar nicht so schwer zu erkennen: Weiß konnte auch noch lang rochieren. Genau das passierte, und bereits nach 11.0-0-0 sieht selbst die allmächtige Engine keine Rettung mehr für Schwarz. Das ging schnell.

Die zweite Partie des Tages war schon etwas erfreulicher. Mit Weiß gegen Mitfavorit und Titelverteidiger Guido Stanau (Elo 2076) durfte ich eine Menge vorbereiteter Theoriezüge machen, bis darauf, dass Schwarz das für diese Variante unpassende …Da5 eingeschaltet hatte. Das anschließende komplexe Mittelspiel konnte ich klar für mich entscheiden, und so fand ich mich schließlich mit zwei Mehrbauern im Gepäck wieder, die nur noch nach Hause gebracht werden mussten. Nur: So langsam forderten mein erheblicher Zeitaufwand im Mittelspiel sowie die Belastung durch die Doppelrunde ihren Tribut. Mit wirklich ausgesprochen schlechter Technik brachte ich es fertig, meine "Alles gewinnt"-Stellung so weit herunterzuwirtschaften, dass bereits eine Serie von einzigen Zügen nötig war, um einem Dauerschach zu entkommen. Einige weitere technische Fehler später war dann nur noch ein Bauern mit Läufer gegen Springer übrig, und Guido konnte das natürlich spielend halten.

Nach vier sieglosen Runden sollte in der fünften dann endlich einer her. Vor dem Turnier hatte ich noch gedacht, ich wäre der einzige d4-Spieler unter den zehn Teilnehmern. In den ersten Runden wurde dann klar, dass sowohl Carina Brandt als auch Jakob Pfreundt teilweise bis vollständig von e4 auf d4 umgesattelt hatten. Jetzt kam auch noch meine Gegnerin in dieser Runde hinzu: Berfîn Lemke feierte gegen mich ihre d4-Premiere. Soviel zu meiner Vorbereitung. In einer vollständig symmetrischen Stellung versuchte ich mit taktischen Mitteln Gewinnchancen zu erhalten, aber wir wissen ja: Alle langen Varianten sind falsch. In diesem Fall waren meine Berechnungen sogar korrekt, nur meine Einschätzung der Stellung am Ende der achtzügigen Variante nicht. Die Gewinnchancen waren zwar durchaus vorhanden, lagen aber bei meiner Gegnerin und nicht bei mir. Glücklicherweise war sie nett genug, mein Remisangebot anzunehmen – in der Schlussstellung stand sie bereits auf Gewinn.

In der sechsten Runde durfte ich dann wieder selbst d4 spielen, dieses Mal gegen Jakob Pfreundt. Hier muss ich meinem Gegner eine erheblich bessere Eröffnungsvorbereitung oder –kenntnis zugestehen. Wir folgten der fünfzehn Züge langen Hauptvariante meiner Vorbereitung, aber anders als für mich war für Jakob die Vorbereitung damit noch nicht zu Ende. Bis zum neunzehnten Zug folgten wir noch den Empfehlungen, die tatsächlich in einer Fußnote meines Buches standen, mit der Einschätzung "White has a strong initiative". Meine Erfahrung in der Partie war gänzlich anders – die Stellung war deutlich angenehmer zu spielen für Schwarz. Nach langer, passiver Verteidigung im Endspiel erhielt ich schließlich ein Remisangebot, welches ich nicht ablehnen konnte.

Der Ausgang meiner siebten Partie war zwar für den Turnierausgang nicht mehr relevant, wohl aber für mich. Gegen Carina Brandt hatte ich bisher außer in unserer ersten Begegnung immer Schwarz, und habe in den Schwarzpartien jedes Mal nur einen halben Punkt holen können. Vielleicht könnte es ja beim fünften Versuch klappen. Nun, in der Partie kam ich früh unter Druck und musste ein Damenendspiel mit einem Bauern weniger verteidigen. Theoretisch sollte dieses Endspiel zu halten sein, und praktisch stellte Carina freundlicherweise mit dem klassischen 41. Zug ihren Mehrbauern wieder ein. Ich war sogar so gut gelaunt, dass ich ihr Remisangebot ablehnte und das Endspiel mit fünf gegen fünf Bauern an einem Flügel noch einen Zug lang weiterspielte. Carina beantwortete mein Schach mit dem korrekten Zug, und wir einigten uns auf Remis. Wieder nichts.

Nochmal Schwarz hatte ich in der achten Runde gegen den Favoritenkiller und Meister der Herzen, Michael Elbracht (Elo 1950). Michael hatte zuvor überraschend die beiden Ratingfavoriten Julian Grötzbach und Julian Kramer besiegt, sehr zur Freude der nicht-HSK-ler. Unsere Partie wurde plötzlich wild, als sich in der d-Linie zwei ungedeckte Damen gegenüberstanden und dank Abzugs-, Gabel- und Fesselungsmotiven die umherstehenden Leichtfiguren einige gedeckte Bauern schlagen konnten. Nach dem kurzen Feuerwerk hatte ich ein Doppelturmendspiel mit Läufer gegen Springer und besserer Bauernstruktur vor mir. Mit ausgefeilter Technik gelang es mir, daraus ein völlig ungewinnbares Turmendspiel zu machen. Ein gutes Ergebnis mit Schwarz, aber noch immer kein Sieg!

In der letzten Runde wartete dann nochmal ein richtiger Brocken auf mich. Julian Grötzbach (Elo 2212) führte zusammen mit Julian Kramer mit 5,5 Punkten das Feld an. Die Verfolger waren Luis Engel und Jakob Pfreundt mit 5 Punkten. Luis hatte Schwarz gegen Carina, und der Königsspringer Jakob Pfreundt spielte mit Weiß gegen Julian Kramer. Ein 2-0 der Jakobs gegen die Julians würde Jakob zum Meister machen, sofern nicht Luis seine Partie gewinnen würde. Also: Alle gegen den HSK.

Carina erledigte ihren Part souverän und tauschte in ein Endspiel mit ungleichfarbigen Läufern ab, welches schnell Remis gegeben wurde. Jakob Pfreundt hatte gegen Kramer eine sehr komplizierte und undurchsichtige Mittelspielstellung auf dem Brett und außerdem eine halbe Stunde mehr Zeit auf der Uhr. Und ich? Ich war endlich meine ursprünglich für Julian Kramer gedachte Vorbereitung losgeworden, nur eben gegen den anderen Julian. Ein Glück, dass die beiden das gleiche Eröffnungsrepertoire spielen. Im hochkomplexen Anti-Moskau-Gambit musste Julian Grötzbach früh selbst überlegen, während ich bis zum fünfzehnten Zug exakt in meiner Vorbereitung war und danach noch die Pläne und Motive vorbereitet hatte. So hatte auch ich schnell eine halbe Stunde mehr auf der Uhr. Dadurch war Julian Grötzbach bereits am Rande der Zeitnot, als ich schließlich mit h4, g4 und f4 die Stellung öffnete – selbstverständlich mit meinem König auf h1 und schwarzer langer Rochade. Julian verteidigte sich nicht genau genug, und nachdem ich mit 31.b4 auch noch den letzten meiner acht Bauern zwei Felder nach vorne gezogen hatte, gab er dann auf. Auf zum anderen Brett: Dort hatte Jakob Pfreundt gegen Julian Kramer nach langen taktischen Verwicklungen eine gesunde Qualität mehr, und wie man so schön sagt, auch noch die Kompensation. Das sah auch Julian ein. 2-0 für die Jakobs, und tatsächlich keine Meisterschaft für den HSK!

Der Sieg in der letzten Runde rettete für mich das ansonsten nicht gerade optimal gelaufene Turnier. Gleichzeitig habe ich damit einen neuen persönlichen Rekord in der Kategorie "Elo/DWZ-stärkster geschlagener Gegner" aufgestellt. Insgesamt habe ich zwar trotzdem ein paar Ratingpunkte verloren, aber dafür waren alle meine Partien spannend und ausgekämpft.

Am letzten Abend der Reise fand dann die traditionelle Abschlussshow statt. In Schönhagen treten dabei zwar keine Tänzer auf wie bei FIDE-Turnieren, aber eine Spieleshow mit Einbeziehung der Teilnehmer ist sicherlich kurzweiliger als eine Zeremonie der FIDE. Nach der Siegerehrung wurde dann noch eine Lockerung der Bettgehzeiten für die letzte Nacht verkündet, sodass es kein Wunder ist, dass am nächsten Tag auf der Busfahrt nach Hamburg viele Teilnehmer noch etwas Schlaf nachzuholen hatten. Schließlich ging dann zur Mittagszeit mit der Ankunft in Hamburg offiziell mein letztes Jugendturnier zu Ende. Jetzt muss ich wohl auf die HEM umsatteln.