Inspektor Iso l’Ani schritt langsam durch die Vereinsgebäude des Preetzer TSV, ohne seinen Blick von der Szene abzuwenden. Ein solches Massaker hatte er in seiner Karriere noch nicht gesehen. Sein neuer Assistent Lieu Faux-Pas wuselte bereits zwischen den Tischreihen hindurch, um mit der Spurensicherung zu sprechen. l’Ani seufzte, gesellte sich zu Faux-Pas und begrüßte die Runde mit einem gebrummten “Haben Sie schon was?”.
Lieu Faux-Pas ließ seinen Notizblock fallen.
„Moin, Chef! Offenbar wurden am Sonntag acht Personen angegriffen. Die Reste der Attacke sehen Sie hier“. l’Ani runzelte die Stirn. Er zählte nur fünf Opfer vor sich. „Ja, Chef, es gab zwei Überlebende, offenbar die Personen vom Tisch zwei und Tisch sechs“. „Wenn mich meine Rechenkünste nicht im Stich lassen, sind das immer noch nicht Acht.“ „Eine Person ist verschwunden, von ihr konnten wir keine Partie sicherstellen. Die Überwachungskameras zeigen aber, dass auch die Person an Tisch 7 nicht überlebt hat. Den Dokumenten zufolge handelt es sich hierbei um einen Nikolas Egelriede“. l’Ani wies die Spurensicherung an, nach Hinweisen auf einen fortgeschafften Körper zu suchen.
Lieu Faux-Pas folgte Inspektor l’Ani durch den Raum und stieß dabei einen Tisch um. Nachdem er sich vielmals bei der grummelnden Spurensicherung entschuldigt hatte, setzte er wieder an: „Die Überlebenden konnten eine Zeugenaussage abgeben. Offenbar handelt es sich bei den Opfern um die erste Mannschaft des TV Fischbek, die eben mit acht Personen hier angetreten waren. Einer der beiden, David Serrer, berichtete von seiner Begegnung, in der er einen sehr starken Zug gefunden hatte.“
„Leider wickelte er später in ein Turmendspiel ab, in dem sein Gegner zu einfache Remischancen bekam.“
„Der andere Zeuge, Jakob Kneip, war ebenfalls erleichtert, nie wirklich gefährdet gewesen zu sein. Er konnte sich schon früh eine angenehme Französisch-Stellung erarbeiten, konnte aber nie einen durchbrechenden Plan finden. Er schien nur etwas traurig über den Partieverlauf seiner Teamkamerad*innen zu sein“
„Französisch, so so?“ kommentierte l’Ami. „Das wird ja immer interessanter.“ Während er noch durch die Tischreihen schritt, stieß er plötzlich einen Fluch aus. „Was ist denn hier passiert?!“. Faux-Pas zog ihn leicht zurück. Mit gedämpfter Stimme sagte er: „Das hier war wohl das erste Opfer, Marco Rolf.“ Inspektor l’Ami inspizierte die Überreste. „Da ist ja wirklich nicht mehr viel zu erkennen.“ „Sie sagen es, Chef!“ Lieu Faux-Pas verwischte versehentlich eine Kreidemarkierung. l’Ami bückte sich, um unter den Tisch Nummer drei zu sehen. Er fluchte erneut. „Mein Gott, wie viele Stücke sind das denn?“ Ein Herr von der Spurensicherung, dessen Namen sich l’Ami nie merken konnte, antwortete: „Mindestens 16, aber wir zählen noch. Hier gab es wirklich alles, der Spieler hat wohl vollkommen spekulativ seine gesamte Stellung geopfert, um den gegnerischen König aufzureißen, was aber nur dazu geführt hat, dass sein eigener König am Ende unhaltbar wurde. Sehen Sie, hier gab es sogar einen Damenfang.“
Der Inspektor wandte sich ab. Er hatte hier genug gesehen. „Weiter.“ Faux-Pas führte ihn zu Tisch fünf. „Was ist hier passiert?“ „Diese Person heißt Alexander Schneider. Er schien am Anfang noch sehr genau zu wissen, was er tat und konnte sogar zunächst einen Mehrbauern durch ein zweifelhaftes Gambit seines Gegners einheimsen. Er stand jedoch stets unter Druck, bis er schließlich eine Figur aufgeben musste. Danach hat sein Gegner ihm keine Chance mehr gelassen.“ „Hrm. Irgendwelche Anzeichen von äußeren Einflüssen?“ „Wir haben Spuren von Nüssen am gesamten Tisch gefunden, möglicherweise war eine allergische Reaktion im Spiel.“ Inspektor l’Ami nahm die Information zur Kenntnis.
An Tisch acht wurde l’Ami unruhig. „Was haben diese durcheinander zeigenden Pfeile zu bedeuten?“ „Die Spurensicherung hat versucht, die Planfindungen an diesem Tisch nachzuvollziehen. Es ging sehr durcheinander, mal am Königsflügel, mal am Damenflügel, mal im Zentrum. Die Spielerin, Ceren Sural, hat sich in der Eröffnung eine gute Stellung erarbeitet, hatte jedoch offensichtlich Zweifel daran, ihre vorbereiteten Durchbrüche in die Tat umzusetzen. Schließlich öffnete sie die b-Linie, doch ausgerechnet dort war es dann, wo die gegnerischen Schwerfiguren in ihre Stellung eindringen konnten. Sie sah sich genötigt, an einer ungünstigen Stelle den Vorstoß im Zentrum durchzuführen. Dabei verlor sie jedoch erst zwei Bauern und später den Rest der Stellung.“ „Sie meinen, sie wurde mit ihren eigenen Waffen geschlagen?“ „So kann man es sagen, Chef. Wobei, es gibt noch eine Anmerkung zum Turmendspiel am Ende. Es hätte noch eine Möglichkeit gegeben, den gegnerischen König so abzudrängen, dass er sich nicht im Schatten seiner vorrückenden Bauern verstecken hätte können.“
Der Inspektor schüttelte bedauernd den Kopf. „Nun gut, Faux-Pas, zeigen Sie mir die letzten Opfer.“
Lieu Faux-Pas trottete zwischen Tisch eins und drei. „Warum zeigen Sie mir diese beiden zusammen, Faux-Pas?“ l’Ani zog eine Braue hoch. „Weil es frappierende Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Fällen gab, Chef. Sehen Sie, beide sind mit sehr dynamischen Stellungen aus der Eröffnung gekommen. Während Carina Brandt im Mittelspiel eine Qualität für ein sehr starkes Zentrum opferte, gewann Jürgen de Voogt andersherum eine Qualität. Beide Qualitäten wurden kurz darauf wieder zurückgegeben und beide landeten anschließend in einem passiven Endspiel mit ungleichfarbigen Läufern. Beide hatten zuvor genau solche Endspiele gemeinsam trainiert und trotzdem sind beide von ihnen mit Beispielen von eben diesen Prinzipien zugrunde gegangen.“
Inspektor l’Ani kniff die Augen zusammen. „Das könnte unser Schlüssel sein. Gibt es weitere Gemeinsamkeiten?“ „Nun, wir konnten an beiden Plätzen ein paar å und ø sicherstellen. Außerdem konnten Überwachungskameras aus Kiel einfangen, dass beide Spieler sich zum Frühstück vom gleichen Teller Pancakes bedient haben, sehen Sie.“
„An Tisch 4 konnten wir auch Krümel eines belegten Brots finden, welches offenbar von Preetz bereitgestellt wurde.” „War es ein gutes belegtes Brot?“ „Exzellent, Chef. Es hatte sogar eine Weintraube auf dem Käse.“ Inspektor l’Ani sog scharf die Luft ein. „Smørrebrød“ murmelte er. Lieu Faux-Pas horchte auf. „Wie meinen Sie?“ „Smørrebrød, dänische Leibspeise. Ich denke, ich habe die Verbindung. So wie ich das sehe, wurden die Opfer offenbar durch belegte Brote in die Hallen des Preetzer TSV gelockt. Ein Faible für gute Brotwaren war ja offenbar vorhanden. Ich denke, wir haben es mit einer international agierenden Tätergruppe zu tun, die ihre Verbindungen bis nach Dänemark hat. Das waren Profis! Wir müssen aufpassen, die Geschichte könnte sehr gefährlich werden.“ Faux-Pas stierte den Inspektor mit offenem Mund an. „Das ist genial, Chef! Wie sind Sie darauf gekommen?“ „Reine Beobachtungsgabe, Faux-Pas, reine Beobachtung. Was uns aber noch fehlt, ist das Motiv. Waren es rivalisierende Gangs? Eine kulinarische Auseinandersetzung? Reiner Zufall? Kommen Sie, Faux-Pas, wir haben noch viel zu tun.“