Bericht: HEM 2016

Neuer Austragungsort, neues Glück — oder so ähnlich. Die Hamburger Einzelmeisterschaft der Erwachsenen wurde dieses Jahr in der Mensa der Schule Alter Teichweg ausgetragen. Ein hübscher Ort für so ein Turnier: Die meiste Zeit über ruhig, gut klimatisiert, und mit stilvollen Reihe hoher Pflanzen, die die Meisterklasse von den anderen Klassen abtrennt und ein bisschen die Geräusche filtert (und einem außerdem ein ziemlich elitäres Gefühl verschafft).

Nachdem ich letztes Jahr einmal ausgesetzt hatte, war ich dieses Mal wieder am Start. Startplatz 7 von 20, um genau zu sein. Spezielle Vorbereitungen für dieses Turnier hatte ich natürlich nicht getroffen, ich wollte einfach mal gegen die starken Teilnehmer spielen und gucken, wie es so läuft.

In der Auftaktrunde wurde ich mit Weiß gegen Jens-Erik Rudolph vom hinteren Ende der Setzliste gepaart. Der eröffnete mit dem sogenannten Fort-Knox-Franzosen (1.d4 e6 2.c4 d5 3.Sc3 dxe4 4.Sxe4 Ld7), einem System, in dem Schwarz ganz direkt auf den halben Punkt spielt und so gut mauert, wie er kann — daher der Name. Ich hatte einen Zug lang die Gelegenheit, die Partie taktisch zu entscheiden:[chessboard]r4rk1/pp3p1p/2p1p1p1/4P1qn/2B3P1/2P2Q2/PP3P1P/3RR1K1 w[/chessboard]Hier hätte 18.h4! Df4 19.De2! Sg7 20.Td4 Dh6 21.g5 Dh5 22.Df1!! nebst Lc4-e2 die schwarze Dame gefangen. Habe ich aber nicht gesehen und stattdessen selbige abgetauscht, wodurch ich dann noch über dreißig Züge lang ein Endspiel Läufer gegen Springer zum Gewinn führen musste. Aber immerhin, Punkt ist Punkt.

Runde zwei lief dann gleich nicht so gut. Mein Gegner, Birger Wenzel, war bestens vorbereitet. Die ersten 17 Züge der Partie konnte er auswendig spielen (ich nur die ersten neun, circa), und für seine nächsten vier musste er auch nicht nachdenken. Nach dieses 21 Zügen hatten wir dann folgende Stellung:[chessboard]3rrbk1/ppqn1pp1/2p3p1/4p1P1/PPN1PP2/2P3P1/4Q1B1/R4RK1[/chessboard]Ich zog hier 21…f5??, und Birgers erster eigener Zug, 22.Da2!, war dann schon quasi das Ende der Partie. Schwarz wird ganz simpel auf der h-Linie mattgesetzt.

Nach dieser ziemlich gegenwehrlosen Niederlage von mir musste in der dritten Runde mit Weiß ein Sieg her, damit bei der Truppe die Moral wieder in Ordnung kommt. Carsten Dumjahn, gegen den ich vor Kurzem erst in den Mannschaftskämpfen Remis gespielt hatte, ließ sich ebenfalls auf Französisch ein nach 1.d4 e6 2.e4 d5. Allerdings überraschte er mich dann mit 3.Sc3 Sc6?! — nur weil ich d4-Spieler bin, heißt das nicht, dass ich nicht weiß, wie man in bestimmten e4-Eröffnungen solche Nebenvarianten widerlegt. Zufällig hatte ich mir erst vor einem knappen Jahr (nämlich als ich 2015 Weiß gegen ihn in den Mannschaftskämpfen hatte) angeschaut, was man mit Weiß gegen 3…Sc6 unternehmen sollte. Das klappte denn auch wunderbar, und die Stellung nach meinem elften Zug ist bereits deutlich gewonnen für Weiß:[chessboard]r2qk2r/ppp2ppp/4bn2/n2p4/3P4/B2B1N2/P1P2PPP/1R1Q1RK1 w[/chessboard]Nur bin ich nicht der allerbeste Angriffsspieler und verbockte meinen schönen Vorteil Stück für Stück, bis Schwarz schon wieder eine halbwegs spielbare Stellung hatte — und genau an der Stelle machte Carsten dann einen fatalen Fehler, denn seinem Empfinden nach hatte er die ganze Zeit auf Verlust gestanden, sodass er nicht mehr mit voller Konzentration dabei war. Ein etwas glücklicher voller Punkt.

Zeit für die vierte Runde, dieses Mal gegen Daniel Grötzbach, den neuen HSJB-Kassenwart. Sicherlich ein unbestechlicher Gegner (nicht, dass ich es bei irgendwem versucht hätte). Mein Plan war, mit Schwarz nicht wie in Runde 2 in eine Vorbereitung zu laufen, sondern eine schön spielbare Stellung zu erhalten. Genau das passierte auch. Nach einer originellen strukturellen Entscheidung von mir (…gxh5 statt Sxh5) hatten wir eine Stellung, in der, wie ich fand, eigentlich nur ich auf Gewinn spielen könnte. Daniel tauschte ein bisschen Material und bot mit 22.Txe5 Remis an:[chessboard]r5r1/pp2kp1p/2p1pn1P/4R2p/3P1B2/2P3P1/PP4P1/5RK1[/chessboard]Hier hätte ich jetzt mit diversen Zügen weiterspielen können, etwa …Sd5 oder irgendein Königszug. Aber meine Idee war 22…Tg6?? 23.Lg5 Tag8, wonach in einige Endspiele nach Abtausch auf f6 betrachtet hatte. Nur leider hat Weiß 24.Lh4!, wonach er sofort auf Gewinn steht. Witzigerweise erkennt das meine Schachengine auch dann nicht, wenn ich sie eine Weile rechnen lasse, sondern erst, wenn ich ihr den Gewinn demonstriere. Die Pointe ist, dass Weiß Te5-e2-f2 spielt und Schwarz sich nur mit Tg6xh6 und Tg8-g6 verteidigen kann. Danach ist Schwarz im Zugzwang, und Weiß macht so lange Kg1-h1-g1, bis Schwarz keine Bauernzüge mehr hat (er muss lediglich einen Bauern auf d4 behalten anstatt auf c5 zu schlagen). Irgendwann verliert Schwarz den Springer auf f6. Das war eine etwas unnötige Niederlage von mir. Dementsprechend schlecht war meine Stimmung danach.

Meine Stimmung wurde nicht gerade besser, als ich in Runde 5 ein weiteres Mal Schwarz bekam. René Mandelbaum testete die Aktualität meines Theoriewissens in der scharfen Caro-Kann-Hauptvariante, und Christoph Serrer sei Dank war mein Wissen aktueller als seines. Mit Schwarz mit einer ausgeglichenen Stellung und deutlich mehr Zeit auf der Uhr aus der Eröffnung zu kommen ist bereits ein Erfolg. Rene versuchte dann in einem leichfigurenlosen Endspiel, mich mittels eines temporären Bauernopfers mattzusetzen, aber daraus wurde nichts.[chessboard]5rk1/pp1q1pp1/4p3/4P1pP/2P5/4Q3/PP6/1K5R[/chessboard]Tatsächlich konnte ich hier mit 26…Td8 den Bauern einfach zurückgeben, und nach 27.Dxg5 Dd3+ 28.Ka1 Dd1+ 29.Dc1 De2 ist es Schwarz, der angreift, und Weiß muss sich verteidigen. Schließlich tauschte ich die Türme und gewann das Damenendspiel mittels eines durchmarschierenden Mehrbauerns.

Mein nächster Gegner war FM Björn Bente, einer meiner Lieblingsgegner. Björn ist nicht nur einer der mir sympathischsten starken Schachspieler in der hamburger Szene, er spielt auch interessantes Schach. Wir hatten bereits vier Partien gegeneinander, und alle vier waren spannende Begegnungen. Diese fünfte war es ebenfalls. In einer symmetrischen Benoni-Struktur machten wir beide ein paar ungenaue Züge, bis es zu dieser Stellung kam:[chessboard]1r2r1k1/2nbqp2/p2p2pp/1ppPb2n/2P5/PPNB3P/2QN1PPB/1R2R1K1[/chessboard]Björn, der im Turnier bisher zu wenig Punkte geholt hatte, um um Platz 1 zu spielen, brauchte einen Sieg und versuchte daher 20…Df6 (statt etwa …Lxh2+). Etwas riskant, denn nach 21.Txe5 Txe5 22.Sce4 De7 hat Weiß eine Gewinnstellung. Die Engine findet noch deutlichere Gewinne, aber ich hatte mir ein Endspiel mit Mehrbauer ausgerechnet nach 23.Dc3 f5 24.Lxe5 fxe4 25.Sxe4 Dxe5 26.Dxe5 dxe5 27.g4!, was die Figur zurückgewinnt wegen 27…Sf4 28.Sf6+ Kg7 29.Sxd7 Td8 30.Sxc5. Björn versuchte noch etwas, aber vier Züge später gab er auf. Damit ist er jetzt der erste FM, gegen den ich einen positiven Score habe! (Ich lasse hier mal Leute außen vor, gegen die ich gewonnen habe, als sie noch unter 2100 Elo hatten, und die jetzt FMs sind.)

Nach sechs entschiedenen Partien in Folge war mir in Runde sieben nach etwas Ruhe, und mein Gegner und ich einigten sich nach nur 13 Zügen auf Remis, wie die Profis. Naja, in Wahrheit war die Stellung, in der Andrei Hloskovsky mir Remis anbot, ziemlich interessant:[chessboard]r2qk2r/pp3ppp/2p2nb1/2b1nN2/4PpP1/7P/PPPPQN2/R1B1KB1R w[/chessboard]Weiß spielte hier 13.d4(=). Im übrigen fast der einzige Zug für Weiß, denn Schwarz drohte ziemlich fies …f3 nebst Gewinn des e4-Bauern. Ich guckte eine halbe Stunde in die Stellung, ob ich einen Weg zum schwarzen Vorteil finden konnte, und fand nichts — Weiß hat das Läuferpaar und entknotet sich irgendwann einfach, dachte ich. Die Engine findet tatsächlich ein paar kleine Tricks, mit denen Schwarz sich einen minimalen Vorteil sichern kann, aber die habe ich natürlich nicht gefunden. Deshalb nahm ich das Angebot zur Punkteteilung an. Man muss auch mal Frieden schließen können.

In der vorletzten Runde hatte ich dann Weiß gegen den Überraschungsstar des Turniers, Jakob Goepfert. Jakob und ich haben schon etliche Male auf Jugendturnieren gegeneinander gespielt, denn Jakob ist nur ein Jahr älter als ich. Die Turniersituation war, dass Jakob dem Feld davongeeilt war. In der siebten Runde hatte er verloren, wodurch der Abstand etwas kleiner geworden war, aber Jakob war nichtsdestotrotz der große Favorit auf den ersten Platz. Für mich hieß das: Ich musste gewinnen, und dann in der letzten Runde mit Schwarz vermutlich nochmal gewinnen, vermutlich gegen Hauke Reddmann, um erster zu werden — und selbst dann nur, wenn Jakob seine letzte Partie nicht gewinnt. Keine einfache Aufgabe. Immerhin hatte ich Weiß gegen Jakob. Die Eröffnung verlief glänzend: Jakob traute sich im Wolga-Gambit nicht, gegen mich die schärfste theoretische Variante zu spielen, und nach gerade einmal zwanzig Zügen war meine Stellung strategisch gewonnen.[chessboard]r1r3k1/3qpp1p/3p2p1/2pP4/P2bP3/1P3P2/2Q3PP/1RB2R1K w[/chessboard]Schwarz hat keinerlei Gegenspiel, ich habe alles unter Kontrolle. Das ist eigentlich die Art von Stellung, die ich gemütlich und sicher nach Hause bringe — eigentlich! Aus welchem Grund auch immer kam ich zwei Züge später auf die Idee, g2-g4 zu spielen, um eine zweite Schwäche zu erzeugen. Da aber die Damen noch auf dem Brett waren, erreichte ich lediglich, dass Schwarz sehr aktives Gegenspiel bekam. Der richtige Plan wäre natürlich gewesen, mit g2-g3 und Kg2 meine Stellung langsam aber sicher zu verbessern. Nun, ich hatte die Stellung geöffnet und wir kamen auch langsam in Zeitnot. Eine Weile lang ging es noch gut, objektiv war meine Stellung sogar einige Züge lang gewonnen (und nichtmal schwer zu sehen, im Nachhinein), aber irgendwie hatte ich mehrere Male in Folge den Gewinnzug als Kandidaten, um mich dann im letzten Moment für einen anderen Zug zu entscheiden. Mit meinem 38. Zug schließlich stellte ich die Partie dann direkt zum Verlust ein. Ärgerlich für mich, und mathematisch schon der Turniersieg für Jakob Gopefert.

Zum Abschluss des Turnier hatte ich dann noch einmal Schwarz, gegen Ralf-Dieter Urban. Der spielt normalerweise recht ästhetische Partien, mit einer guten Portion Elan, und gegen mich war das nicht anders. Aus der Eröffnung heraus bekamen wir eine sehr interessante Stellung mit ungleichfarbigen Läufern und einem isolierten Freibauern auf d5 für Weiß, von dem sich erst im Laufe der Partie entscheiden würde, ob er durchläuft oder fällt. Und selbst wenn ich ihn gewinnen würde, wäre mein Mehrbauer nur ein doppelter f-Bauer — zusammen mit den Ungleichfarbigen war die Stellung für Weiß also langfristig nicht allzu riskant. Konkret wurde sie aber ziemlich schnell für beide Seiten riskant:[chessboard]r4rk1/pp3pp1/1q1b1p1p/1B1P1n2/Q7/2N5/PP3PPP/3R1RK1[/chessboard]Schwarz am Zug kann hier mittels 16…a6 17.Ld7 Dxb2 einen Bauern einsammeln, aber für wen ist das gut? Verliert Schwarz nach Se4 Material (De5? f4!), oder nach Dc4 die Initiative? Oder fresse ich einfach ungestraft einen Bauern? Nach zwanzig Minuten Rechnen und Grübeln war meine Antwort: Letzeres, ein schmackhaftes Fressen. Nach dem Partiezug, 18.Se4, geht noch …b5 und danach dann De5, da jetzt der Springer auf e4 ungedeckt ist und somit f4 nicht mehr funktioniert. Mein Gegner tauschte den Springer dann gegen meinen Läufer auf d6, die Damen folgten bald darauf. Mit etwas Mühe gelang es mir, noch alle Türme und dabei auch meinen f7- gegen den d-Bauern zu tauschen. Das Resultat: Springer gegen Läufer, mein Lieblingsendspiel, mit einem Mehrbauern am Damenflügel. Die Verwertung hiervon erwies sich wegen der offenen Stellung allerdings als ziemlich knifflig. Als ich schließlich soweit war, dass mein König eindringen und meine Bauern losstürmen konnten, waren alle anderen Partien schon beendet, und um mein Brett versammelten sich knapp zwei Dutzend Zuschauer, in der Hoffnung, dass ich bald fertig würde und die Siegerehrung starten könnte. Aber dazu macht so ein Endspiel einfach zu viel Spaß. Irgendwann war es dann soweit, dass der weiße König meinen Königsflügel einsammelte, während mein König und Springer um den b-Freibauern herumtanzten und den Läufer verjagten, sodass ich mir im 59. Zug eine Dame holen konnte. Endlich, Siegerehrung!

Bei der Siegerehrung war ich dann etwas verblüfft, Dritter geworden zu sein. Zwei weitere Spieler (Carsten Dumjahn und Björn Bente) hatten ebenfalls 5,5/9, aber meine 42,5 Buchholzpunkte waren mehr als ihre (Carsten hatte 42). Glück gehabt! Etwas kurios: Bei meiner letzten HEM 2014 hatte ich ebenfalls 5,5/9 mit einer Buchholz von 42,5 Punkten erreicht, aber damals reichte das nur für den fünften Platz. Ebenfalls kurios: Meine DWZ-Leistungen in meinen letzten drei Turnieren (Lüneburg 2015, Rangliste 2015 und HEM 2016) waren 2211, 2011 und 2111.
Schachlich bin ich mit dem Turnier insgesamt ganz zufrieden. Die Niederlagen gegen Daniel Grötzbach und Jakob Goepfert hätten beide nicht sein müssen — aber wenn man nach dem Turnier seine eigenen Fehler geraderechnet und die der Gegner nicht, hätte man immer ein Glanzergebnis geholt. Ich hatte mehrere Angriffspartien, ein paar Taktiken, die ich korrekt gesehen habe, und ein paar technische Endspiele. Und: Ungewöhnlich wenige Remisen, nur ein einziges. Das hat vermutlich auch etwas mit meiner deutlich aggressiveren Spielweise zu tun gehabt. Mich amüsiert es auch immer noch, dass ich als d4-Spieler in der Hälfte meiner Weißpartien Französisch bekommen habe. Mal schauen, ob ich in Zukunft weiterhin halbwegs erfolgreich aggressiver spielen kann.

Herzlichen Glückwunsch an Jakob Goepfert, der mit einer gesunden Mischung aus Durchhaltevermögen, Tricksereien und starkem Spiel eine schlechte Stellung nach der anderen gewonnen hat und so Überraschungssieger geworden ist. Besonders beeindruckend ist dieses Ergebnis, wenn man bedenkt, dass er zuvor drei Jahre lang gar kein Schach gespielt hat, und außerdem keine Computer zum Vorbereiten zur Verfügung hatte.

Lobend erwähnen sollte man noch — wie jedes Mal bei der HEM! — die schnelle Partieneingabe durch die Organisatoren. Wenn man abends bis zehn Uhr gespielt hat, sind am nächsten Morgen die Partien zum Vorbereiten bereits online. Das ist wirklich klasse.

2 Kommentare

  1. Der Bauernzug gh5: aus der

    Der Bauernzug gh5: aus der Begegnung gegen Grötzbach ruft irgendwie die 3. Partie des WM-Match 1972 in Erinnerung. Damals war das Ergebnis für Schwarz (Fischer) jedoch erfreulicher als bei der Neuauflage 2016.  

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